Meinung

Der Tod von "Weißen" bringt Westen zum Nachdenken – um die "Eingeborenen" ist es nicht schade

Diskussionen über eine mögliche Einstellung von Waffenlieferungen an Israel nach dem Tod von westlichen Mitarbeitern der Hilfsorganisation "World Central Kitchen" offenbaren wieder einmal, wie tief doppelte Standards und Rassismus im Westen verankert sind.
Der Tod von "Weißen" bringt Westen zum Nachdenken – um die "Eingeborenen" ist es nicht schadeQuelle: AP © Abdel Kareem Hana

Von Wladimir Kornilow

Der Westen hat in Israels Aktionen im Gazastreifen plötzlich die Anzeichen eines Genozids entdeckt und ebenso plötzlich und schnell die Frage nach Einstellungen von Waffenlieferungen an die israelische Regierung aufgeworfen. Es geschah genau ein halbes Jahr nach dem Beginn des Krieges in dieser Region. Sechs Monate Bombardements, Morden, massenhaftes Sterben von Frauen und Kindern haben den Moralkompass des Westens nicht ins Wanken gebracht.

Alles änderte sich nach drei punktuellen Angriffen des israelischen Militärs gegen drei Fahrzeuge eines humanitären Konvois am 1. April. Plötzlich kamen "Weiße" ums Leben – einige Bürger westlicher Staaten aus der Wohlfahrtsorganisation "World Central Kitchen" (WTC). Und das ist schon eine ganz andere Sache! Das ist nicht mehr der Tod von Tausenden palästinensischer Kinder, vor dem westliche Politiker monatelang die Augen zugedrückt haben.

Freilich waren Debatten über den Charakter der Angriffe auf den Gazastreifen und die Notwendigkeit, Israel nicht weiter zu bewaffnen, auch vorher geführt worden. Einige Regierungen trafen entsprechende Beschlüsse, und ein Gericht in den Niederlanden verbot noch im Februar, Ersatzteile für israelische Kampfflugzeuge zu liefern. Doch nach gezielten Angriffen auf den humanitären Konvoi erhielten diese Debatten eine ganz andere Dimension und erreichten die höchsten Ebenen.

So erschienen in Großbritannien einige Zeitungen mit reißerischen Überschriften: "Hört sofort auf, Waffen an Israel zu verkaufen!" Weil bei dem Angriff auf den Konvoi drei britische Bürger umgekommen sind, brach in der dortigen Presse eine Flut an solchen Forderungen aus. Zum "Austausch" zwischen London und Jerusalem erschienen sofort Illustrationen mit Raketen im Tausch gegen Särge mit britischen Flaggen. Umgehend forderten nicht nur Oppositionelle, sondern eigene Parteikollegen vom britischen Ministerpräsidenten Rishi Sunak, die Waffenverkäufe zu stoppen.

Unter die 17-seitige Petition mit entsprechenden Forderungen setzten über 600 Juristen ihre Unterschriften, darunter drei ehemalige Angehörige des Obersten Gerichts Großbritanniens. Weitere Waffenlieferungen an Israel würden unter diesen Bedingungen das Völkerrecht verletzen und einen Genozid unterstützen, führten sie aus.

Besonders bezeichnend ist, dass diese Diskussion zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen zwei ehemaligen britischen Regierungschefs führte, von denen der eine zusätzlich den Posten des Außenministers bekleidet hat, und der andere es immer noch tut. Die Rede ist von Boris Johnson und David Cameron. Johnson verfasste einen emotionalen und sehr zynischen Kommentar in der Zeitung Daily Mail. Darin bezeichnete er die Forderungen nach einem Verbot von Waffenlieferungen an Israel als "Wahnsinn" und warf deren Befürwortern "Unterstützung des Terrorismus" vor.

Der Zynismus des Kommentars besteht indes in offener Verhöhnung des humanitären Völkerrechts. Johnson erinnerte daran, dass sich der Westen um Tausende ziviler Opfer der NATO-Bombardements in Libyen überhaupt nicht scherte, entsprechend müsse man auch den Tod von Tausenden Palästinensern im Gazastreifen ignorieren. Dies schreibt praktisch direkt ein Abenteurer, der die Schuld am Tod von Heerscharen von Ukrainern trägt, die er in einen blutigen Konflikt trieb – doch dazu kehren wir später zurück.

Johnson griff unumwunden seinen ehemaligen Chef Cameron an und warf ihm vor, Forderungen über ein Verbot von Waffenlieferungen an Israel nicht entschieden genug abgelehnt zu haben. Die Antwort des amtierenden Ministers ließ nicht lange auf sich warten: Buchstäblich am folgenden Tag erschien in The Sunday Times Camerons Kommentar unter dem Titel: "Wir haben humanitäre Gesetze. Israel muss sich daran halten." Es begann also eine direkte Polemik mit Johnson!

Dabei begann Cameron seinen Artikel ausgerechnet mit dem Tod von drei Briten im Gazastreifen. Nicht mit dem Tod von Kindern, nicht mit dem Leid von Tausenden Zivilisten, nicht mit dem Hunger von älteren Menschen – all das ist für London sekundär. Schließlich behauptete der britische Außenminister, dass er "Israels Recht auf Selbstverteidigung" zwar unterstütze, fügte aber hinzu: "Natürlich ist unsere Unterstützung nicht bedingungslos. Wir erwarten, dass sich eine solch stolze und erfolgreiche Demokratie an das humanitäre Völkerrecht hält." Somit lässt Cameron eine direkte Anspielung auf ein mögliches Ende der Unterstützung zu.

Betonen wir an dieser Stelle noch einmal: Solche erbitterte Diskussionen auf höchster Ebene begannen in Großbritannien erst nach dem Tod von drei Bürgern dieses Landes. Gerade diese Tatsache machte sie so emotional. Vergleichbare Debatten entbrannten in Ländern, die die meisten Waffen an Israel liefern, nämlich den USA und Deutschland. Auch dort wurden bereits Klagen vor Gerichten eingereicht und Diskussionen auf der Ebene von politischen Strukturen begonnen. Und es ist sehr bezeichnend, dass die gleichen Länder, Politiker, Parteien, die vor den Morden von Zivilisten durch das ukrainische Regime seit nunmehr zehn Jahren die Augen verschließen, plötzlich wegen der Leiden der Palästinenser zu erwachen scheinen – allerdings nur deshalb, weil einige westliche Staatsbürger im Gazastreifen ums Leben gekommen sind!

Besonders wertvoll in diesem Zusammenhang ist das Einräumen der doppelten Standards des Westens durch Johnson. Der pathologische Lügner sagte alle Jubeljahre einmal die Wahrheit, als er schrieb: "Humanitäres Völkerrecht? Das ist doch lächerlich!" Erinnern wir uns – das ist derselbe Johnson, der bezüglich der Unterstützung der Ukraine immer auf das "Völkerrecht" verwiesen hatte. Dabei betonte er freilich immer, dass er niemals britische Soldaten in die Ukraine zum Kämpfen schicken würde. Schließlich soll es keine "Weißen" treffen.

Was das Leben von "Eingeborenen" – ob Libyer, ob Araber, ob Ukrainer – angeht, war es dem Westen schon immer einen Dreck wert. Gerade deshalb verbot Johnson zu seiner Amtszeit als Ministerpräsident seinen Kiewer Marionetten, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, der das Blutvergießen beendet hätte. Gerade deshalb liefert der Westen weiterhin Waffen an die Ukraine – die "Eingeborenen" tun ihm nicht leid, und auf das humanitäre Völkerrecht spuckt der Westen. Was Johnson wieder einmal zynisch bewiesen hat.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 8. April bei RIA Nowosti.

Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Ehemals Leiter der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten in Kiew und Leiter des Zentrums für Eurasische Studien in Den Haag. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja.

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