Meinung

Konfliktherd Zentralasien? Grenzstreitigkeiten zwischen Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan

Einer der längsten Territorialkonflikte auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR scheint sich seinem Ende zu nähern. Kirgisistan und Usbekistan haben einen Gebietsaustausch vereinbart. Doch ein weiterer eingefrorener Konflikt in der Region könnte wieder aufflammen.  
Konfliktherd Zentralasien? Grenzstreitigkeiten zwischen Kirgisistan, Tadschikistan und UsbekistanQuelle: Sputnik © Igor Jegorow

Von Jewgeni Pogrebnjak

Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat es in Kirgisistan Grenzstreitigkeiten mit allen Nachbarn gegeben. Eine Vereinbarung mit China und Kasachstan gelang dem Ex-Präsidenten Askar Akajew. Eine Grenzdemarkation mit Usbekistan und Tadschikistan blieb dagegen bis heute aus.

Kirgisistans längste Grenze, diejenige mit Usbekistan, erstreckt sich über 1.314 Kilometer. Die kirgisische und die usbekische Bevölkerung leben auf beiden Seiten der Grenze, außerdem gibt es nationale Enklaven. Nun trafen beide Seiten eine Vereinbarung. Sie wurde bereits vom kirgisischen Parlament gebilligt, und in nächster Zeit wird eine Unterzeichnung des Dokuments durch die Präsidenten Kirgisistans und Usbekistans erwartet. Laut dem Vertrag wird die einzige kirgisische Enklave in Usbekistan – das Dorf Barak, mit einer Fläche von 208 Hektar – aufgelöst. Der Vorsitzende des kirgisischen Staatskomitees für nationale Sicherheit, Kamtschybek Taschijew, erklärte diesbezüglich:

"Wir tauschten Barak gegen ein Landstück in der Nähe des Bezirks Kara-Suu und erhielten 208 Hektar bewässertes Land. Nun beginnt die Demarkationsarbeit, Die Bewohner von Barak kommen nach Kirgisistan. Wir werden ihnen eine Entschädigung zahlen und Häuser bauen."

Diese Entwicklung ist als positiv anzusehen, beseitigt sie doch einen Spannungsherd. Zuvor mussten die Bewohner des kleinen Dorfes jeden Tag die usbekische Grenze überqueren – und stießen dabei auf nicht sehr freundliche Grenzwächter.

Doch das größte Problem entstand um die Zugehörigkeit des Stausees Kempir-Abad (Andischan), dessen größter Teil in Kirgisistan liegt und der von Westen an Usbekistan grenzt. Nach der Vereinbarung geht das Gebiet des Stausees an Usbekistan. Als Gegenleistung wird Kirgisistan über 19.000 Hektar Land erhalten, darunter bisher umstrittene Gebiete. Laut dem kirgisischen Präsidenten Sadyr Dschaparow wird sich nun die Landesfläche von 199.000 auf über 210.000 Quadratkilometer vergrößern.

Die Vereinbarung scheint für Kirgisistan günstig zu sein, doch viele Einwohner des Landes sind unzufrieden. Seit dem vergangenen Jahr, als das Projekt der Demarkation der usbekisch-kirgisischen Grenze erstmals vorgestellt wurde, gab es in Kirgisistan zahlreiche Demonstrationen. Prowestliche Medien schalteten sich aktiv in die Proteste ein und gewährten den Aktivisten Informationsunterstützung.

Grenzfragen wurden schnell zu einem Teil der Innenpolitik, es mehrten sich Aufrufe zu Protesten und Forderungen nach einem Regierungswechsel. Die kirgisische Filiale von Radio Liberty – Radio Asattyk – heizte die Lage dermaßen fleißig an, dass deren Webseite blockiert wurde. Dutzende Aktivisten, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und einige Politiker, die sich jeglichen Zugeständnissen widersetzten, wurden verhaftet.

Auf der anderen Seite spricht in Usbekistan niemand von einem Verrat nationaler Interessen, obwohl de facto gerade Taschkent alle strittigen Gebiete abtreten musste und damit die größeren Zugeständnisse machte. Warum aber ist das Verhältnis zu dieser Frage in Kirgisistan und Usbekistan so unterschiedlich? Der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für internationale Forschungen des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, Alexander Knjasew, erklärte der Zeitung Wsgljad:

"Der ethnisch-territoriale Nationalismus ist in der kirgisischen Gesellschaft recht stark ausgeprägt. Und die Losung: 'Wir treten keinen Fußbreit unseres Bodens ab' ist dort sehr aktuell."

Einer der Anlässe für die kirgisische Farbenrevolution im Jahr 2005, als Präsident Akajew gestürzt wurde, sei gerade die territoriale Frage gewesen, so Knjasew weiter:

"Damals wurden Grenzstreitigkeiten mit China reguliert. Kirgisien trat das Landstück Usengi-Kusch an China ab, und erhielt im Gegenzug andere Gebiete. Dies löste starke Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus, die von der Opposition ausgenutzt wurde."

Das Gleiche passiert heute. Beispielsweise behauptete der bekannte kirgisische Oppositionspolitiker Adakhan Madumarow, dass die Ratifizierung des Abkommens zur Grenze gesetzwidrig abgelaufen sei und wies in diesem Zusammenhang auf Regelverletzungen hin. Damit könnten im Falle eines Regierungswechsels die neuen Machthaber das Abkommen juristisch für nichtig erklären, sollten sie dies wünschen.

Nach Knjasews Meinung wählte Usbekistan in Grenzfragen die Strategie der Geduld. Taschkent machte gewisse Zugeständnisse an der kirgisisch-usbekischen Grenze, Ähnliches ist auch bei der Demarkation der usbekisch-kirgisischen Grenze zu beobachten. Damit beseitigt Usbekistan Probleme für die eigene Weiterentwicklung, ohne sich durch Streitigkeiten mit seinen Nachbarn ablenken zu lassen.

Doch wenn die kirgisische Regierung sich mit Usbekistan immerhin um eine friedliche Lösung bemüht, scheint es im Fall Tadschikistans keine Chancen dafür zu geben: Beide Seiten rüsten auf und verweigern jedwede Kompromisse.

Der letzte größere Zusammenstoß zwischen Kirgisistan und Tadschikistan erfolgte am 14. September. Dies war der größte Konflikt während der gesamten Konfrontation an der kirgisisch-tadschikischen Grenze (insgesamt gab es hunderte bewaffnete Zwischenfälle). Beide Seiten setzten all ihre verfügbaren schweren Waffen ein, darunter Panzer, Mehrfachraketenwerfer und die Luftwaffe. Dutzende Menschen starben, hunderte Häuser wurden zerstört.

Diese Verbitterung rührt her von Problemen, die sich noch zu sowjetischen Zeiten angesammelt hatten. Die ständig wachsende Bevölkerung benötigte immer mehr bewässertes Land und Weideflächen. Doch bewässertes Land und Wasserquellen sind hier, in den Grenzregionen des kirgisischen Gebietes Batken und des tadschikischen Wilojat Sughd, äußerst selten zu finden. Die Bevölkerung lebt oft schachbrettförmig: kirgisische, usbekische und tadschikische Gemeinden gibt es in allen angrenzenden Ländern. Außerdem gibt es Enklaven, die wichtigsten Spannungsherde im Ferghanatal.

Der größte Unruheherd ist wohl die tadschikische Enklave Woruch mit 45.000 Bewohnern, die von kirgisischem Territorium umgeben ist. Tadschikistan selbst hält Woruch nicht für eine Enklave und ist der Ansicht, dass es mit dem Hauptgebiet Tadschikistans über einen Korridor verbunden ist. Von der Anwesenheit kirgisischer Siedlungen in diesem Korridor lässt es sich nicht stören – in dem Glauben, dass sie Neuankömmlinge aus sowjetischen Zeiten seien.

Man könnte meinen, dass der Streit durch den Blick auf eine sowjetische Landkarte gelöst werden könnte. Doch aus welchem Jahr sollte diese Karte stammen? Die kirgisische Seite schlägt die letzte Karte aus dem Jahr 1989, oder eine aus dem Jahr 1958 vor. Dort ist Woruch eindeutig als eine vom kirgisischen Gebiet umgebene Enklave verzeichnet. Zum Kirgisistan gehört auch der wichtige wasserverteilende Punkt "Golownoi", aus dem Gießwasser über Bewässerungskanäle auf drei Länder verteilt wird.

Die tadschikische Seite besteht dagegen auf einer Betrachtung der Karten aus der Periode zwischen 1924 und 1927, auf denen Woruch keine Enklave darstellt, sondern halbinselförmig in kirgisisches Territorium eindringt. Die Problematik dieser Position liegt darin, dass zu diesem Zeitpunkt weder die Tadschikische noch die Kirgisische Sowjetrepublik existierten. Letztere entstand zum Ende des Jahres 1927, davor war sie ein Teil der Usbekischen SSR. Die Kirgisische SSR erschien erst im Jahr 1936, und hatte bis dahin zur RSFSR gehört.

Indessen kauft Kirgisistan türkische Kampfdrohnen und macht keinen Hehl daraus, dass sie gegen Tadschikistan gerichtet werden. Tadschikistan seinerseits begann die Produktion iranischer Kampfdrohnen. Beide Seiten errichten Schützengräben in den umstrittenen Gebieten. Wenn keine politische Lösung gefunden wird, ist der nächste Konflikt unvermeidlich.

Dabei kann Kirgisistan keine territorialen Zugeständnisse wie im Falle Usbekistans machen. Denn dadurch würde der kirgisische Bezirk Leilek mit seinen 150.000 Bewohnern zu einer Enklave. Die einzige Straße, die Leilek mit dem benachbarten Bezirk Batken verbindet, verläuft ausgerechnet durch das Gebiet zwischen Woruch und dem restlichen Territorium Tadschikistans.

Der Experte Alexander Knjasew schlug als eigene Lösungsvariante vor:

"Zur Lösung dieser Probleme muss das Gebiet vollständig demilitarisiert werden. Dort sollten sich keine Streitkräfte der beiden Länder befinden. Das Gebiet selbst sollte von auswärtigen Friedenstruppen kontrolliert werden. Von wem genau? Wahrscheinlich von der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Ich sehe keine Varianten, wer sonst noch diese Funktion übernehmen könnte."

Knjasew zufolge wäre es damit möglich, die lokale Bevölkerung zu beruhigen, Spannungen im ethnischen und alltäglichen Bereich zu mindern. Parallel dazu sollte eine Demilitarisierung und eine Grenzdemarkation auf Grundlage von Kompromissen durchgeführt werden. Anderenfalls könnten die Folgen unvorhersehbar sein, darunter eine Einmischung auswärtiger Akteure. Knjasew erklärte:

"Über einen langen Zeitraum wurde in Kirgisistan durch die Schaffung zahlreicher Nichtregierungsorganisationen und sonstiger Soft-Power-Methoden der Mechanismus einer Selbstreproduktion von Instabilität errichtet. Was daraus entstehen könnte? Alles Mögliche. Die Ereignisse könnten sich in jede Richtung entwickeln, bis hin zu einem erneuten Umsturz."

Übersetzt aus dem Russischen.

Mehr zum Thema - Was ist an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan passiert, und wohin kann das führen?

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.