Meinung

Die USA schützen sich selbst vor Den Haag, wollen aber Russland dort angeklagt sehen

In Washington will man Putin unbedingt vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bringen. In den USA selbst hat man aber vor Jahren ein Gesetz geschaffen, das "alle notwendigen Mittel" zulässt, um dort Verfahren gegen US-Bürger oder die USA als Staat zu verhindern.
Die USA schützen sich selbst vor Den Haag, wollen aber Russland dort angeklagt sehenQuelle: AFP © Martijn Beekman / ANP / AFP

Ein Kommentar von Rachel Marsden

Im Dunstnebel des Krieges in der Ukraine und angesichts des völligen Fehlens eines ordnungsgemäßen Verfahrens zur Bewertung – ein Prozess, der normalerweise Jahre dauert – der verschiedenen Szenen von Gewalt, die aus dem Konflikt von dort an die Öffentlichkeit gelangt sind, sucht die Regierung von Joe Biden bereits nach einer Möglichkeit, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH ) einzuspannen, um das in Washington gewünschte Ergebnis voraussetzend die Fakten rückwärts abarbeiten zu lassen.

"Das Team um Präsident Biden möchte unbedingt sehen, dass der russische Präsident Wladimir Putin und andere in seiner militärischen Befehlskette zur Rechenschaft gezogen werden", schreibt etwa die New York Times.

Abgesehen davon, dass die Vereinigten Staaten selbst nicht einmal Mitglied dieses Internationalen Gerichtshofes sind [und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 auch niemals selbst anerkannt und ratifiziert haben, wie neben Dutzenden weiterer Länder auch China, Indien, die Türkei und Israel nicht unterzeichnet oder ihre Unterzeichnung mittlerweile zurückgezogen haben] – welche moralische oder sonstige Autorität haben die USA für derartige Erwartungen? Auch Russland ist seit 2016 nicht mehr Mitglied des IStGH, sodass alle Bemühungen, Russland ins Visier zu nehmen, kaum mehr als Symbolik bedeuten würden.

Das Ausbleiben von Genugtuung, das Washington somit konstatieren müsste – gar nicht zu reden von den potenziellen Risiken für sich selbst, welche die USA mit ihrer Forderung eingehen würden – macht den eklatanten Mangel an Selbstwahrnehmung in den USA noch deutlicher hervortreten. Warum also sollte man in Washington riskieren, eine Büchse der Pandora gegen sich selbst zu öffnen, indem man plötzlich ein neu entdecktes Interesse an der Verteidigung des Völkerrechts zum Ausdruck bringt? Bisher sah man in Washington keinen Sinn im Internationalen Strafgerichtshof, sondern und wies im Zuge verschiedenster eigener bewaffneter Interventionen quer über den Globus alle Beschuldigungen wegen Kriegsverbrechen gegen US-Beamte und -Militärs stets zurück.

Im Jahr 2002, "rechtzeitig" während der US-Invasion in Afghanistan und kurz vor Beginn der nächsten Invasion in den Irak mit der umgehenden Entmachtung von Saddam Hussein, verabschiedete der US-Kongress das "Schutzgesetz für amerikanische Dienstangehörige" (American Service-Members' Protection Act), informell auch "Den-Haag-Invasionsgesetz" genannt, das "alle Mittel zulässt, die notwendig und angemessen sind, um die Freilassung von amerikanischem oder alliiertem Personal herbeizuführen, das vom Internationalen Strafgerichtshof, im Namen oder auf Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshofs, festgenommen und inhaftiert wurden". Dieses Gesetz verbietet im Übrigen sogar auch Zusammenarbeit auch mit dem IStGH sowie die Auslieferung von US-Staatsbürgern an dieses Gericht.

Nicht lange nach Unterzeichnung dieses Gesetzes durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush, begannen tatsächlich Anschuldigungen wegen Kriegsverbrechen gegen Offizielle in Washington, und zwar im Zusammenhang mit dem globalen "Krieg gegen den Terror" lauter zu werden. Human Rights Watch beschrieb "Methoden der Zwangsverhöre", die vom Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zur Anwendung bei Gefangenen in Guantánamo genehmigt worden waren, und veröffentlichte zudem Fotos der Misshandlungen von Gefangenen durch US-Soldaten im Gefängnis von Abu Ghuraib im Irak.

Abgesehen von den verstörenden Bildern erlauben die Genfer Konventionen tatsächlich, rechtswidrige feindliche Kombattanten an Ort und Stelle zu erschießen oder ihnen den Status als reguläre Kriegsgefangene zu verweigern. Die USA nutzten diese Diskrepanz aus und sahen sich möglicherweise aufgrund des Völkerrechts, das bis auf den Westfälischen Frieden zurückreicht, juristisch dazu berechtigt. Aber in der Hitze eines bewaffneten Konflikts schlagen die Emotionen hoch und überwältigen oft das Interesse an einem ordentlichen Verfahren. Man sollte meinen, Washington wäre zumindest bereit, den Akteuren im Ukraine-Konflikt die gleiche Rücksicht zu gewähren, die es für die USA einfordert.

Andere US-amerikanische Kriegshandlungen, die höchstens beiläufig als "Kriegsverbrechen" und "Gräueltaten" bezeichnet werden, gab es in den letzten zwei Jahrzehnten im Überfluss. 16 Zivilisten wurden 2012 in Afghanistan von einem US-Soldaten beim Massaker von Kandahar getötet. 2015 beschoss eine US-amerikanische sogenannte "Fliegende Festung" stundenlang mit Maschinenkanonen ein Krankenhaus im afghanischen Kundus, was von der NGO "Ärzte ohne Grenzen" als Kriegsverbrechen bezeichnet wurde.

Das private amerikanische Militärunternehmen Blackwater wurde beschuldigt, 2007 beim Massaker am Nisour-Platz in Bagdad 17 Zivilisten ermordet und 20 weitere verletzt zu haben. Um die überwältigende Wut in der irakischen Bevölkerung zu besänftigen, hatte Washington mit der damaligen irakischen Regierung vereinbart, die Verantwortlichen vor US-Gerichten zur Rechenschaft zu ziehen – ein Manöver, das von den USA benutzt wurde, um die Ablehnung des IStGH zu rechtfertigen. Der spätere Präsident Donald Trump – dessen Bildungsministerin die Schwester von Erik Prince war, Gründer von Blackwater und ein langjähriger Großspender der Republikanischen Partei – hat letztendlich vier der Angeklagten kurz vor Weihnachten 2020 kurzerhand begnadigt, die eigentlich wegen Verbrechen von Totschlag bis Mord verurteilt worden waren. Trump berief sich in seiner Entscheidung auf die "lange Geschichte des Dienstes an der Nation" dieser Soldaten, was weltweit Empörung auslöste.

Die USA haben immer gegen das Völkerrecht gewettert, wenn sie in Bezug auf eigene Handlungen das Gefühl hatten, dass doch eher der Zweck die Mittel heiligt – für sich selbst oder ihre Verbündeten. Der frühere US-Botschafter und Nationale Sicherheitsberater John Bolton sagte 2018, kurz vor den Sanktionen gegen IStGH-Beamte durch die Trump-Regierung (die erst vergangenes Jahr von Biden wieder aufgehoben wurden), wegen des Aufruhrs angesichts der Untersuchung von Vorwürfen über amerikanische Kriegsverbrechen in Afghanistan und über Kriegsverbrechen von Israel in Palästina: "Die Vereinigten Staaten werden alle notwendigen Mittel einsetzen, um unsere Bürger und die unserer Verbündeten vor ungerechter Strafverfolgung durch dieses illegitime Gericht zu schützen."

Ein schneller Vorlauf nun in das Jahr 2022, und schon werden die Anschuldigungen von angeblich begangenen "Kriegsverbrechen" – die nur von einem Richter festgestellt werden können – zu Propagandazwecken rücksichtslos verbreitet, auch vom derzeitigen US-Präsidenten Joe Biden selbst. Während das "Team Biden" versuchen will herauszufinden, wie man solch ein internationales Gericht manipulieren kann, dessen Autorität Washington ansonsten kategorisch ablehnt, sollte es sich besser zunächst einmal überlegen, wie man da mitmischen kann, ohne gleich gegen sich selbst einen Kriegsverbrecherprozess zu riskieren.

Übersetzt aus dem Englischen.

Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite finden man unter rachelmarsden.com

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