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Blinder Fleck in der Panzerdebatte: Warum redet keiner über Abrams?

Abgesehen von einer Bemerkung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die bald wieder zurückgezogen wurde, sind die US-amerikanischen Panzer der Elefant im Raum, über den niemand spricht. Dabei spräche, so man unbedingt das ukrainische Gemetzel unnötig verlängern will, alles für den Abrams M1.
Blinder Fleck in der Panzerdebatte: Warum redet keiner über Abrams?Quelle: www.globallookpress.com © 1st Lt. Caroline Pirchner

Von Dagmar Henn

Es ist schon seltsam. In den vergangenen Jahren wurden ständig weitere Exemplare dieses Panzertyps nach Osteuropa transportiert und blieben dort; Zug um Zug. Mit Sicherheit befinden sich Hunderte dieser Panzer in Europa. Und dennoch wird in der Debatte der NATO so getan, als gäbe es diese Panzer nicht.

Der Leopard 2 und der Abrams M1 gehören zur gleichen Generation; mehr noch, sie sind zwei Endprodukte einer ursprünglich gemeinsamen Entwicklung, die vor allem darauf ausgerichtet war, ein Gegenstück zu den sowjetischen T-70 zu liefern. Das zeigt schon: Die Grundvariante ist inzwischen fast 50 Jahre alt. Beide Panzer existieren in mehreren aktualisierten Versionen, deren letzte auch tatsächlich Netzwerkfähigkeit herstellen; das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie in einigen Aspekten beide jeweils eine oder zwei Generationen hinter den russischen T-90 oder gar T-14 liegen.

Beide Panzermodelle sind zumindest zu mehreren Hundert in Europa verfügbar. Abrams wurden seit 2014 in größeren Zahlen nach Europa gebracht, nach Polen, ins Baltikum, nach Rumänien; zuletzt nach einer Meldung von Reuters noch in diesem Monat. Es gibt also keinen Unterschied im logistischen Aufwand, diese Panzer zur Verfügung zu stellen.

Wenn man die technischen Probleme betrachtet, die die Nutzung dieser Panzer in der Ukraine schaffen würden, wäre der Abrams M1 sogar leicht im Vorteil, zumindest, wenn es sich um die Modelle der US-Armee handelt. Die sind nämlich inzwischen weitgehend auf ein einheitliches Niveau gebracht, den Abrams M1A2, was den gewaltigen Vorteil hätte, dass ausgebildete Mannschaften auf allen Panzern dieses Typs eingesetzt werden können.

Beim Leopard 2 gäbe es diese Möglichkeit nicht. Quer durch die westeuropäischen Armeen verteilt reicht das Spektrum mindestens von Leopard 2 A4 bis Leopard 2 A7. Nachdem es sich dabei um Erneuerungswellen handelt, die im Verlauf der letzten 30 Jahre stattfanden, kann man sich vorstellen, dass die Unterschiede beträchtlich sind. Selbst ein Lastwagenfahrer, der vor 30 Jahren das letzte Mal einen Lkw gefahren hat, hätte heute Probleme, das Fahrzeug überhaupt zu starten. Und in einem Panzer steckt deutlich mehr und komplexere Elektronik.

Der Hauptnachteil des Abrams M1 ist der höhere Treibstoffverbrauch durch die Turbine. Der Dieselmotor des Leopard 2 benötigt nur die Hälfte des Treibstoffs, aber der Wartungsbedarf des Dieselmotors ist größer, weil er aus mehr Teilen besteht. In Summe dürfte der Vorteil des Abrams M1, überwiegend in einer einzigen Version vorhanden zu sein, die Nachteile durch höheren Treibstoffverbrauch ausgleichen. Schließlich ist bei einem einzigen Modell auch die Wartungslogistik wesentlich simpler.

Technisch gesehen spräche also alles für den Abrams anstelle des Leopard. Die Gründe, warum die USA und ihre liebsten Verbündeten (Großbritannien, Polen und die Balten) auf die Lieferung des Leopard drängen, liegen auf der politischen Ebene.

Der erste, schwer zu übersehende Grund: Die Ukraine ist dabei, zu verlieren. Es ist schlecht für die Rüstungsindustrie, wenn deren Produkt mit einer Niederlage verbunden wird. Schon Bilder zerschosssener Panzer sind schlecht fürs Geschäft. Da sind übrigens, das zeigten Einsätze im Nahen Osten, beide gleich empfindlich und noch durch alte sowjetische RPG-7 zu zerstören.

Aber wenn die Armee, an die die Panzer geliefert werden, komplett verliert, dann dürfte das Produkt massiv darunter leiden (so, wie im Gegenzug der Marktwert russischer Waffentechnik durch den Militäreinsatz in der Ukraine deutlich gestiegen ist). Selbstverständlich agiert eine US-Regierung, die tief in der Tasche des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) steckt, im Interesse der eigenen Absatzmärkte. Vor allem, wenn man als Bonus auch noch die ganzen Wartungsverträge mit abschöpfen kann, die es für die dann nicht mehr vorhandenen (also durch US-Produkte zu ersetzenden) Leopard 2 nicht mehr braucht.

Das ist der zweite Grund – die Verdrängung der Konkurrenz in der NATO. Der Abrams M1 und der Leopard 2 sind die einzigen Panzermodelle, die überhaupt je in Stückzahlen im Tausenderbereich produziert wurden, was immer noch ein Resultat der Aufstellung im Kalten Krieg ist, nach der nur die USA und die Bundesrepublik wirkliche Panzerverbände besaßen. Die meisten Leopard 2 wurden ursprünglich für die Bundeswehr produziert und dann weitergereicht. Die augenblickliche Situation könnte vom MIK der USA als Gelegenheit gesehen werden, selbst den kompletten Markt zu übernehmen. Je mehr europäische Rüstungsgüter in der Ukraine verheizt werden, desto mehr US-Rüstungsgüter kann man den Europäern danach verkaufen.

Der dritte Grund: Die Panzerlieferungen sind unter allen Umständen der Einstieg in den Konflikt mit Truppen. Selbst wenn die Ukraine das halbe Jahr hätte, das es braucht, damit die Mannschaften die Panzer fahren können, fehlte dann immer noch der Panzerkommandeur, dessen Ausbildung länger dauert, als noch eine Ukraine auf der Landkarte zu finden sein dürfte. Nachdem Kommandeur und Mannschaft miteinander kommunizieren können müssen und selbst die Polen kaum willens sein dürften, ihr gesamtes Panzerpersonal zu ukrainischen Söldnern zu machen, bleibt es dabei, dass die Lieferung von Panzern ohne Besatzung nutzlos ist. Mit Besatzung lässt sich das aber kaum mehr anders wahrnehmen denn als volle Beteiligung als Kriegspartei.

Wundert es, dass die USA sich da einen schlanken Fuß machen, wenn man doch andere ins Feuer schicken kann? Man könnte das sogar als eine Art Risikobegrenzung verkaufen; schließlich könnte man behaupten, das wäre noch keine Auseinandersetzung zwischen den beiden größten Nuklearmächten, die Gefahr einer nuklearen Eskalation sei also dadurch unter Kontrolle.

In Wirklichkeit geht es natürlich darum, die absehbare Niederlage jedem außer den USA in die Schuhe zu schieben, auch, um der eigenen Bevölkerung gegenüber die Niederlage kaschieren zu können. Wenn es keine Abrams und keine US-Besatzungen sind, haben andere versagt. Nichts ist weniger denkbar als ein Eingeständnis einer US-Niederlage; vorher wird alles ins Feuer geworfen bis auf die Küchenspüle, wie man das auf Englisch formulieren würde. Auch alle vermeintlichen Verbündeten.

Der vierte Grund findet sich in den Theorien eines britischen Geografen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie sind deshalb nach wie vor aktuell, weil sich Geografie in historischen Zeiträumen nicht ändert. Großbritannien wie auch die Vereinigten Staaten sind, allein durch ihre Lage, Inseln und können daher nur Seemächte sein; sämtliche möglichen Konkurrenten sind Landmächte. Handelsströme können übers Meer wie über Land verlaufen; die Entdeckung der Seeroute nach Indien beispielsweise führte dazu, dass die Seidenstraße, die 1.000 Jahre lang die Verbindung zwischen Europa und Asien dargestellt hatte, ihre Bedeutung verlor und einstmals Gegenden legendären Reichtums, wie Buchara, in die Bedeutungslosigkeit versanken. Inzwischen sind aber Landtransporte möglich, die schneller und effizienter sind als Seetransporte; das ist der Kern des chinesischen Konzepts der Neuen Seidenstraße.

Die USA als Seemacht sehen dadurch ihre Kontrolle über die Handelsströme schwinden. Letztlich geht es bei all den Beteuerungen von freier Seefahrt, wie etwa durch die Straße von Taiwan, nicht darum, den Verkehr am Laufen zu halten, sondern um die Möglichkeit der Blockade und dementsprechend auch die Möglichkeit, damit zu drohen. Seeblockaden sind ein Hauptinstrument britischer wie US-amerikanischer Machtpolitik, bereits seit den napoleonischen Kriegen, und ein Netz landgestützter Handelsverbindungen macht dieses Mittel nutzlos.

Aus dieser geografischen Situation entsprang dann die Theorie Halford Mackinders vom "Herzland", dessen Kontrolle über die Machtverteilung auf der Welt entscheide. Das Herzland ist genau die eurasische Verbindung von Ost nach West. Sobald die Handelsbeziehungen über Land verlaufen und die Länder entlang dieser Strecke einander wohlgesonnen sind, kann sich keine Seemacht mehr durchsetzen.

Der Schlüssel für die Bildung des Herzlands sind drei Länder (zugegeben, China hatte Mackinder nicht als unabhängige Macht im Blick): China, Russland und Deutschland. Im Rückblick kann man sagen: Solange das Verhältnis zwischen China und Russland angespannt war (also von etwa 1960 bis in die 2000er), durfte aus US-Sicht das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland entspannt bleiben. Sobald sich Russland und China annäherten, musste das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland zerstört werden.

Natürlich ist es in diesem Kontext weitaus nützlicher, deutsche Panzer in die Ukraine zu schicken, als US-amerikanische. Angesichts der deutschen Geschichte würde das die Möglichkeit einer positiven Beziehung vollständig zunichte machen, zumindest, solange die gegenwärtige politische und ökonomische Elite nicht komplett abgelöst ist. Was entweder mindestens eine Generation dauert oder einen Umsturz erfordert.

Aus deutscher Sicht (wenn man einmal die Interessen des Rentenkapitals beiseite lässt, das um jeden Preis die US-Vorherrschaft erhalten will) ist jeder Punkt, der aus amerikanischer Sicht gegen einen Einsatz von Abrams-Panzern spricht, ein Argument dafür. Wobei noch die völlig bizarre Tatsache dazu kommt, dass deutsche Truppen in einen Krieg gegen ein Land geschickt werden sollen, das keinerlei kriegerische Handlung gegen Deutschland unternommen hat, um den Interessen eines Landes zu dienen, das allen Anzeichen nach sehr wohl eine solche Handlung gegen Deutschland unternommen hat, nämlich die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines.

In den Köpfen deutscher Militärs könnte noch ein ganz anderes Szenario für Unruhe sorgen und dazu beitragen, dass insbesondere die Leopard-Panzer der Bundeswehr nicht in die Ukraine sollen. Das Verhalten der polnischen Regierung erweckt den Eindruck, als hätte sie von den Vereinigten Staaten freie Hand bekommen, eine eventuelle Annexion eines Teils der Ukraine eingeschlossen. Polen hat seine Truppen bereits verstärkt.

Gleichzeitig ist diese polnische Regierung Deutschland gegenüber keinen Deut freundlicher als Russland gegenüber und hat Reparationsforderungen in Höhe von über einer Billion Euro gestellt. Mal abgesehen davon, dass solche Forderungen berücksichtigen müssten, dass Polen seit 1945 von Danzig und Schlesien profitiert hat – kann man vernünftigerweise wirklich ausschließen, dass sie, nach einem Ende des ukrainischen Dramas, eine solche Forderung auch militärisch durchzusetzen versuchten? Sodass es ein Gebot der Vernunft wäre, auf dieses Szenario vorbereitet zu sein?

Sollte die Bundesregierung sich darauf einlassen, Leopard 2 in die Ukraine zu liefern, dann wäre das nicht nur vor dem Hintergrund des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion und die damit verbundenen unzähligen Verbrechen eine unermessliche Schande; es wäre gleichzeitig schon fast eine Garantie für das polnische Szenario. Denn es gibt genau einen Punkt, der dessen Realisierung auf friedliche Art und Weise unmöglich machte – wenn auch nur ein minimales Risiko bestände, dass Polens Nachbar zur Linken und sein Nachbar zur Rechten zu einer Übereinkunft kämen.

Wenn durch einen Einsatz deutscher Panzer und Mannschaften in der Ukraine jede Basis selbst für die zaghafteste Annäherung an Russland zerstört und gleichzeitig die deutsche Verteidigungsfähigkeit geschwächt ist, dann wäre es für die USA ein günstiger Moment, sich jeder europäischen Konkurrenz endgültig zu entledigen, indem einer polnischen Aggression der Segen erteilt wird. Selbst wenn eine derartige deutsche Beteiligung in der Ukraine keinerlei russische Reaktion auslösen würde – die in jeder Hinsicht völkerrechtlich legitim wäre, da der Waffenstillstand vom 8. Mai 1945 gebrochen wäre – und der berechtigte Besuch von Herrn Kinschal in Berlin unterbliebe, besteht immer noch das polnische Risiko.

Spätestens mit der Sprengung von Nord Stream hätten in Berlin einige grundlegende Überlegungen beginnen müssen, wer Freund und wer Feind ist. Sollten sie sich auch noch mit Panzern in die Ukraine schieben lassen, stünde fest, dass die unvermeidliche ukrainische Niederlage, die eigentlich die Niederlage der USA sein müsste, sich in eine deutsche verwandelt.

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