Europa

Streiks wegen extremer Inflation – Laut NHS steckt Großbritannien bereits in humanitärer Krise

Angesichts einer Inflationsrate von zehn Prozent erlebt Großbritannien eine Welle von Streiks, durch die neue Lieferengpässe befürchtet werden. Wegen massiver Energiearmut warnt der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) vor gesundheitlichem Notstand und Todesfällen.
Streiks wegen extremer Inflation – Laut NHS steckt Großbritannien bereits in humanitärer KriseQuelle: www.globallookpress.com © London News Pictures/Keystone Press Agency/Keystone Press Agency/ Global Look Press

Ein mehrtägiger Streik von rund 2.000 Hafenarbeitern am größten Containerhafen Großbritanniens droht, nicht nur die britischen Lieferketten weiter zu belasten. Angesichts der immensen Teuerungsrate fordern die Beschäftigten des Hafens von Felixstowe, der etwa 150 Kilometer nordöstlich von London liegt, eine angemessenere Lohnerhöhung als die vom Arbeitgeber, der Felixstowe Dock and Railway Company, angebotenen sieben Prozent. Die Inflation kletterte in Großbritannien im Juli auf über zehn Prozent. Die Gewerkschaft Unite kündigte an, der Streik werde "massive Schockwellen durch die britischen Lieferketten senden".

In der Tat könnte die Arbeitsniederlegung - die erste seit 1989 - für die ohnehin seit der Pandemie angespannten Lieferketten neuen Stress bedeuten, den der Hafen von Felixstowe, einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Frachtverkehr, nach eigenen Angaben bedauert. Den Beschäftigten wurde eine Lohnerhöhung angeboten, die "im laufenden Jahr im Durchschnitt über 8 Prozent" betrage.

Sharon Graham, Generalsekretärin der Gewerkschaft Unite, die zu dem Streik aufgerufen hatte, warf dem Unternehmen, das den "enorm profitablen" Hafen betreibt, und seiner Muttergesellschaft, der CK Hutchison Holdings Ltd, vor, die Gewinne der Aktionäre über das Wohlergehen der Arbeitnehmer zu stellen. Graham forderte:

"Sie können den Arbeitern von Felixstowe eine anständige Lohnerhöhung geben. Es ist klar, dass beide Unternehmen der Erzielung von Dividenden den Vorrang vor der Zahlung eines angemessenen Lohns an ihre Beschäftigten gegeben haben."

Im Hafen werden jährlich rund 4 Millionen Container von 2.000 Schiffen umgeschlagen: "Fast die Hälfte des britischen Containerverkehrs geht durch den Hafen in Felixstowe hindurch und 65 Prozent der ankommenden Container", sagte die britische Handelsexpertin Rebecca Harding der Deutschen Presse-Agentur. Ein achttägiger Streik, der am Sonntag begann, bedeute ein Risiko für Im- und Exporte im Wert von rund 800 Millionen Pfund (rund 950 Millionen Euro) – besonders betroffen sei die Kleidungs- und Elektronikbranche.

Doch der Streik ist längst nicht nur ein Thema für die Insel: Der globale Containerverkehr auf See, die Lebensader des Welthandels, ist seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie vor zweieinhalb Jahren durch mehrere Faktoren bereits angeschlagen. Jede Störung, etwa Lockdowns in einzelnen Häfen, eine Havarie wie die der "Ever Given" im Suezkanal oder eben Arbeitskämpfe, bringt zusätzlich Sand ins Getriebe – selbst wenn ein Hafen wie Felixstowe im internationalen Maßstab kein ganz großer Player im aufeinander abgestimmten Räderwerk der Seelogistik ist.

"Ein Grund für die strapazierte Logistik auf See und in den Häfen ist auch die niedrige Pünktlichkeitsrate von Schiffen", sagt etwa der Ökonom Vincent Stamer, der am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) den weltweiten Containerverkehr analysiert. "Zusätzliche Streiks verschlechtern diese Situation – auch der drohende Streik am größten britischen Hafen Felixstowe." Zudem fürchten Logistiker auch in Deutschland neue Warnstreiks. Diese wären möglich, wenn am Montag die nächste Tarifrunde im Streit um die Löhne der Hafenarbeiter keinen Erfolg bringt. Zuletzt hatte die Gewerkschaft Verdi Mitte Juli für 48 Stunden den Umschlag an allen deutschen Nordseehäfen lahmgelegt.

Ulrich Hoppe, Direktor der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer, hält drastische Engpässe hierzulande durch den Streik in Großbritannien für unwahrscheinlich. "Ich glaube nicht, dass wir leere Regale in Supermärkten sehen werden", sagte er der dpa. Frische Produkte wie Obst und Gemüse würden eher über den Hafen in Dover abgewickelt. Vorstellbar sei aber, dass bei üblicherweise in Containern transportierten Gütern wie Spielzeugen aus China Verzögerungen entstünden – und weiterer Druck auf die ohnehin schon durch die Pandemie und andere Herausforderungen belasteten Lieferketten.

"Der Handel zwischen Großbritannien und dem Rest der Welt, vor allem der EU, ist im vergangenen Jahr ohnehin schon eingebrochen und jede neue Störung erhöht den ohnehin steigenden Druck", sagte Handelsexpertin Harding. Sie hält es für möglich, dass die Inflation weiter steigen könnte, wenn wichtige Lieferketten Störungen unterliegen. "Das würde die Lebenshaltungskostenkrise, die ohnehin in Großbritannien gerade schon so ernst ist, weiter verschärfen."

Zudem haben Angestellte der Post und im Telekommunikationswesen, Juristen und Mitarbeiter von Entsorgungsbetrieben für den August Streiks angekündigt. Die Bahn und die meisten Londoner U-Bahn-Linien hatten jüngst bereits stillgestanden.

In der Tat ist die Krise in dem einstigen Empire für viele Menschen bereits erbärmlich und teils sogar lebensbedrohlich. Der Nationale Gesundheitsdienst warnt aktuell sogar vor einem noch nie dagewesenen Risiko, dass es in diesem Winter mehr Todesfälle durch kalte Wohnungen gibt. Demnach könnte das Vereinigte Königreich einer "humanitären Krise" gegenübersehen, die mit Krankheiten, einer hohen Zahl von Todesfällen und zunehmender Ungleichheit einhergeht, wenn die Regierung keine dringenden Maßnahmen gegen die steigenden Energierechnungen ergreift, teilte die National Health Service Confederation am Freitag mit.

Die Organisation wandte sich in einem Schreiben an den Schatzkanzler, wonach der Druck auf die ohnehin schon angespannten Gesundheitsdienste noch erhöht würde, wenn keine Maßnahmen ergriffen würden. Da die Energierechnungen unerschwinglich würden, müsse das Gesundheits- und Sozialsystem des Landes "die Scherben aufsammeln", so der NHS.

"Das Land befindet sich in einer humanitären Krise. Viele Menschen könnten vor der schrecklichen Wahl stehen, Mahlzeiten ausfallen zu lassen, um ihre Wohnungen zu heizen, oder in kalten, feuchten und sehr unangenehmen Bedingungen leben zu müssen", schrieb der Leiter des NHS Nadhim Zahawi. "Dies wiederum könnte zu Krankheitsausbrüchen im ganzen Land führen und die gesundheitlichen Ungleichheiten vergrößern, die Lebenschancen der Kinder verschlechtern und eine unauslöschliche Narbe in den lokalen Gemeinschaften hinterlassen."

Der NHS wies darauf hin, dass die massive Energiearmut nicht nur zu mehr Krankheit führt, sondern auch "die ohnehin schon hohe Zahl der jährlichen Todesfälle im Zusammenhang mit kalten Wohnungen noch erhöhen wird". Die Situation könne auch die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Zahawi appelliert:

"Führende Vertreter des Gesundheitswesens sind sich darüber im Klaren, dass die Situation zu einem gesundheitlichen Notstand führen wird, wenn die Regierung nicht umgehend Maßnahmen ergreift."

Für einen durchschnittlichen Haushalt in Großbritannien werden die Energierechnungen nach der nächsten Erhöhung der Preisobergrenze ab Januar 2023 voraussichtlich auf mehr als 4.200 Pfund (rund 4.950 Euro) pro Jahr steigen. Noch im vergangenen Oktober wurde die Obergrenze auf 1.400 Pfund (etwa 1.650 Euro) festgesetzt.

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