Europa

Hat das ukrainische Establishment die Entscheidungshoheit über deutsche Sanktionen?

Kanzler Scholz hat das Schicksal der deutschen und europäischen Sanktionen gegen Russland von dem Willen der Ukraine abhängig gemacht. Das bedeutet, dass Botschafter Melnyk Deutschland regieren wird, solange es ein ukrainisches Establishment gibt.
Hat das ukrainische Establishment die Entscheidungshoheit über deutsche Sanktionen?Quelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld/dpa

Eine Analyse von Igor Malzew

Am 5. Mai wurde auf der Webseite der Bundesregierung ein Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz für das Magazin Stern veröffentlicht. Und ich sage Ihnen: Es ist ein sehr eigenartiges Interview, voller innerer Widersprüche bezüglich militärischer Maßnahmen und der europäischen Verhältnisse. Zunächst wird daraus ersichtlich, wie sehr sich die Sozialdemokratie in Europa verändert hat, wie sehr sie ihre eigenen Programme und Ideale verraten hat.

Prompt erinnert der Interviewer Scholz daran, dass dieser als junger Politiker im Jahr 1981 in Bonn an der Organisation einer Großdemonstration von 300.000 Menschen gegen die Aufrüstung der NATO beteiligt war – die erste von insgesamt drei in der BRD. Der Kanzler antwortet:

"Ich habe den Kriegsdienst mit der Waffe Ende der 1970er Jahre aus einer Reihe von Gründen verweigert, die mich damals umgetrieben haben. Heute betrachte ich die Dinge anders. Seit 1998 habe ich als Bundestagsabgeordneter vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus Überzeugung zugestimmt. Das hätte ich nicht machen können, wenn ich noch die gleichen Vorstellungen gehabt hätte wie 20 Jahre davor."

Der Stern provoziert:

"Der russische Präsident Wladimir Putin soll Ihnen in einem Telefonat sogar direkt mit einem atomaren Schlag gegen Deutschland gedroht haben."

Scholz:

"Das ist Unfug."

Stern:

"Wann haben Sie das letzte Mal mit Putin gesprochen?"

Scholz:

"Vor vier Wochen. Wenn es etwas zu bereden gibt, werde ich den Kontakt wieder aufnehmen. Unsere Priorität ist eindeutig: Die Kampfhandlungen müssen sofort beendet werden."

Stern:

"Das geht doch aber nur mit Putin. Ist er erreichbar für Argumente?"

Scholz:

"Er hörte sich jedenfalls an, was wir alle ihm in den Telefonaten und Gesprächen zu sagen hatten."

Der Bundeskanzler weiter:

"Wenn es zu einer Vereinbarung kommt, wird der ukrainische Präsident wohl mit dem russischen an einem Tisch sitzen, um sie zu unterzeichnen. Das eigentliche Problem ist doch, dass wir davon noch viel zu weit entfernt sind. (...) Ganz klar ist: Die Ukraine verhandelt mit Russland, niemand sonst. Wir beraten und unterstützen die Ukraine dabei, auch diplomatisch, gemeinsam mit anderen Ländern. Aber es darf nicht sein, dass andere für die Ukraine oder über die Ukraine entscheiden."

Hier ist der Kanzler schlichtweg unaufrichtig. Schon die Entscheidung schwere Rüstungsgüter in die Ukraine zu liefern an sich, darunter 50 Exemplare der Flugabwehrpanzer Gepard, ist nicht nur ein Verstoß gegen die bisherigen Prinzipien deutscher Politik, sondern eine direkte Einmischung in das Schicksal der Ukraine, nicht wahr?

Dann erlaubt sich Scholz einen erstaunlichen Fauxpas:

"Er (Putin) wird sich aber mit der Ukraine einigen müssen. Wir werden unsere Sanktionen doch nur im Einvernehmen mit der Ukraine zurücknehmen können und wollen. Ich glaube, im Kreml haben das viele noch nicht begriffen. Für Russland hat das verheerende Folgen."

Das heißt, das Schicksal der deutschen (europäischen) Sanktionen wird nun vom ukrainischen "Establishment" und nicht von der deutschen Regierung entschieden. Hervorragend. Dies bedeutet in erster Linie, dass alles von den Amerikanern entschieden wird, und der Traum der Ukrainer ist, dass die Sanktionen für immer bestehen bleiben. Noch ein Grund, warum es nötig ist, dass es kein ukrainisches "Establishment" mehr gibt. Anderenfalls wird Botschafter Melnyk für immer mit einem Porträt seines geliebten Bandera über dem Bundestag schweben. Und dies wäre eine ziemliche Demütigung für den deutschen Staat.

Übersetzt aus dem Russischen

Igor Malzew ist ein russischer Journalist und Schriftsteller, war und ist teils noch immer Kolumnist, politischer Kommentator und Beobachter für zahlreiche russische Blätter, stellvertretender Chefredakteur der Iswestija, erster Chefredakteur der Medwed, Chefredakteur und Gründer des Automobilressorts beim Kommersant. Er ist regelmäßiger Kolumnist beim russischen Zweig von RT.

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